ADHS - Ein alternatives Verständnis

Autor: David Schepkowski - Veröffentlicht: 29.11.2024

ADHS ist bei allen fortschrittlichen Erkenntnissen auch heute noch mit vielen falschen Annahmen verbunden. Von der Vorstellung, dass Erwachsene nicht betroffen sein können, über die Furcht vor Medikamenten-Zombies bis hin zu einem ungesunden Selbstverständnis Betroffener über die vorhandenen Vor- und Nachteile von ADHS, gibt es noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Als ADHSler, der auch im Umgang mit Klienten und den eigenen Kindern, sieht, welche Spuren die Vorurteile bei unseren Mitmenschen hinterlassen, möchte ich hiermit ein zu einem alternativen Verständnis und gesünderem Menschenbild beitragen.


Vorab: Dieser Beitrag ist aus einem Informationsabend, den ich für Eltern aus dem Kinderhort meines Sohnes veranstaltet habe, entsprungen. Vielen Dank nochmals an dieser Stelle an die örtlichen Erzieher und Erzieherinnen für diese Möglichkeit, aber auch an die weiteren Vertreter ihres Berufs, die überall tagtäglich zu einer Inklusion unserer Schützlinge beitragen.


Einleitung

ADHS ist ein Zustand, der mehr Menschen betrifft, als uns bewusst ist. Das geht nicht nur häufig mit zahlreichen negativen Auswirkungen auf die Betroffenen und Angehörigen einher, sondern mit genauso vielen Missverständnissen. Medizin und Wissenschaft sind zwar um Aufklärung und Leidensminderung bemüht, aber solche Vorhaben sind mit langwierigen Prozessen verbunden. Vor allem braucht es eine solidarische Gesellschaft, welche Betroffene schon im Kindesalter mit einer verständnisvollen Umgebung unterstützen können. Dabei geht es nicht um Rechtfertigung für schädigendes Verhalten, sondern um die Übernahme von Verantwortung auf allen Ebenen. 


Das Ziel? Betroffenen die gleichen Chancen auf ein selbstbestimmtes und gesundes Leben einzuräumen, damit sie selbst einen wertvollen Beitrag für eben jene Gesellschaft leisten können, in der sie sich gesehen und aufgehoben fühlen möchten. Ich selbst habe die Diagnose nach Jahren der Depressionen und sozialen Ängsten erst im Erwachsenenalter erhalten und kenne zudem die alltäglichen Herausforderungen als alleinerziehender Vater von zwei betroffenen Kindern. Als ADHS- & Life-Coach mache ich es mir daher immer wieder gerne zur Aufgabe, für Aufklärung zu sorgen. In diesem Artikel, nehme ich einige Grundannahmen zu ADHS als Anlass, das Verständnis über die Thematik zu stärken und für ein versöhnliches Menschenbild zu werben, damit ein Miteinander entsteht, von dem alle profitieren.


Annahme #1 – ADHSler können sich nicht konzentrieren

ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung und bezeichnet damit die Kernelemente, die bei einer Diagnose in den Vordergrund rücken. Der Begriff ist für die meisten jedoch irreführend, da nicht jeder unter den gleichen Symptomen leidet. Ein Satz wie „Kannst du mal bitte das Handy weglegen und mir zuhören!?“ ist nicht nur alltäglicher Begleiter für viele Familien und Beziehungen, er zeigt auch, dass die Betroffenen sehr gut ihre Aufmerksamkeit auf andere Dinge richten können. Nur eben nicht immer auf das, was gerade Relevanz hat. 


Stundenlange Konzentration (auch Hyperfokus genannt) auf ein interessantes Thema oder auf die inneren negativen Emotionen, sind genauso kennzeichnend für ADHSler, wie die Schwierigkeit davon wieder loszukommen. „Aufmerksamkeitsverschiebungs- und Selbstregulationsstörung“ wäre eine Bezeichnung, die der eigentlichen Symptomatik, Ursache und den Umgang damit passender Rechnung tragen würde. Im Übrigen hat der Aspekt mit dem Aufmerksamkeitsdefizit nichts damit zu tun, dass Betroffene selbst nicht genug Aufmerksamkeit erhalten. Es ist sogar eher so, dass von Seiten der Eltern meist dem negativen Verhalten betroffener Kinder zu viel Aufmerksamkeit und damit Macht geschenkt wird, wodurch sich die Symptome verstärken.


Neue Annahme: Es benötigt noch mehr Aufklärung und Zusammenarbeit zwischen Forschung, Bildungseinrichtungen, Eltern und Betroffenen, um dem Erscheinungsbild gerecht zu werden. Angefangen schon bei einem Umdenken in der Begrifflichkeit und Diagnosestellung.


Annahme #2 – Nur Kinder haben ADHS

Wer kennt es nicht? Das Bild vom Schulkind, welches nicht ruhig sitzen bleiben kann, den Unterricht stört und seine Hausaufgaben vergisst. Aus persönlicher Erfahrung kann ich nicht nur sagen, dass man als Elternteil mit der passenden Unterstützung solche Folgeerscheinungen entgegenwirken kann, sondern, dass man mit einer Diagnose und der damit einhergehenden Hilfe, diesen Problemen bis ins hohe Erwachsenenalter vorbeugt. 


ADHS wird auch als neurologische Entwicklungsstörung bezeichnet, was bedeutet, dass sich die Symptomatik im Laufe der kindlichen Entwicklung mit der Reifung des Gehirns im Regelfall bis in die Zwanziger verbessert. Daher auch die Statistik, dass, je nach Testweise und Diagnosekriterien, ca. 2-10 % der Kinder in Deutschland, aber nur ca. 2-5 % der Erwachsene als Betroffene gelten. Dies beinhaltet jedoch nicht die Dunkelziffer, welche aufgrund zu seltener Diagnosen deutlich höher geschätzt wird und widerspricht auch der Erkenntnis, dass ADHS nicht geheilt werden kann. Wer einmal ADHS hat, hat immer ADHS! 


Eine geringere Diagnosehäufigkeit bei Erwachsenen kann aber nicht nur mit einer Reifung des Gehirns erklärt werden, sondern liegt auch in der Symptomatik von ADHS. Erwachsene, welche Leidensdruck verspüren, sind meist voller Selbstzweifel, aber kommen mit ungesunden Bewältigungsstrategien „gerade so zurecht“. Das hindert sie daran, nachhaltig und ausdauernd nach Unterstützung zu suchen. Das Resultat: Wer nicht schon als Kind eine Diagnose erhalten hat, fällt aus der Statistik.


Neue Annahme: Traumatische Erfahrungen aus der Kindheit führen meist dazu, dass man sich als Erwachsener mit seinem ADHS entweder versteckt oder sich erst gar nicht im Klaren ist, was „falsch läuft“. Sie haben aber auch entsprechende Erkennungs- und Unterstützungsmöglichkeiten verdient.


Annahme #3 – Mädchen bekommen kein ADHS

Wer bei dem vorher gezeichneten Bild eines Schulkinds zuerst an einen Jungen denkt, der spiegelt durchaus die Statistik bei der Geschlechterverteilung wider. Denn zwei- bis viermal so viele Jungen wie Mädchen sollen von ADHS betroffen sein. Aber auch dies lässt sich mit der Erkennungsrate begründen, denn manche Symptome äußern sich bei Mädchen anders oder in abgemilderter Variante, als bei Jungen. Sie sind durch einen natürlichen Entwicklungsvorsprung in den sozialen Fähigkeiten gegenüber Jungen besser an die Erwartungen der Schule, Eltern und Gleichaltrigen angepasst. Dabei sind Mädchen von individuellem Leidensdruck und Konzentrationsschwierigkeiten ebenso betroffen, werden aber häufig ignoriert. 


Erst wenn sich Mädchen zu sehr wie „typische“ ADHSler, also hyperaktiv oder impulsiv verhalten, wird das Umfeld hellhörig. Ich selbst sehe diese Unterschiede bei meinen eigenen Kindern – einem Jungen und einem Mädchen – als auch bei mir selbst, der als verängstigter Junge nicht dem typischen Bild entsprach und damit sozial und irgendwann auch akademisch abgehängt wurde.


Neue Annahme: Auch Mädchen sind von ADHS betroffen und leiden – meist still – unter den Symptomen. Akademisches Leistungsverhalten und soziale Gefügigkeit dürfen nicht die einzigen Maßstäbe für ein gesundes Selbstbild von Kindern sein.


Annahme #4 – Es gibt verschiedene Formen von ADHS

Ja und Nein. Einst wurde zwischen ADHS und ADS (einer Nebenform ohne Hyperaktivitätsstörung) unterschieden, wovon man sich mittlerweile entfernt hat. Aktuell werden vornehmlich drei Subtypen spezifiziert: vorwiegend unkonzentriert, vorwiegend hyperaktiv-impulsiv, oder kombiniert. Wobei auch hier Zweifel bestehen, inwieweit Hyperaktivität als ausschlaggebendes Diagnosekriterium herangezogen werden kann. 


Nichtsdestotrotz rückt man damit ein Stück näher Richtung individueller Betrachtungsweise, zumal hierbei auch nicht zwischen Geschlechtern unterschieden wird. Von der grundlegenden Symptomatik abgesehen, muss eine Behandlung auf der Ebene individueller Ausprägung erfolgen, die sich mit der Vorstellung von „ADHS-Typen“ nicht immer deckt und einer Einteilung in Subtypen vorzuziehen ist.


Neue Annahme: Statistiken und Typenbildung mögen hilfreich für allgemeine (Be)handlungsempfehlungen sein, aber sie lassen sich nicht immer auf den Einzelfall anwenden. Individuelle Eigenschaften, die sogar über ADHS selbst hinausgehen, müssen mehr Berücksichtigung finden.


Annahme #5 – Heute behauptet jeder ADHS zu haben

Mit dieser gefährlichen Annahme, die in der Praxis keine Bestätigung findet, gehen die schädlichsten Vorurteile einher, die es vielen nur zu leicht macht, das Leiden ihrer Mitmenschen zu ignorieren. Tatsache ist, dass die Zahl der ADHS-Diagnosen über die Jahre zugenommen hat. Das hat allerdings zu befürwortende Gründe. Zum einen rücken die Probleme psychischer Gesundheit immer mehr ins Bewusstsein unserer Gesellschaft. Denn schon Aufzeichnungen zu Zeiten der Antike lassen die Annahme zu, dass Menschen mit ADHS seit jeher existiert haben – genauso wie Menschen mit Autismus oder Linkshänder, welche bis vor nicht allzu langer Zeit ebenso als „gestört“ behandelt wurden. Auf der anderen Seite begeben durch verstärkte Aufklärung mehr Menschen in Behandlung, wodurch natürlich auch die absolute Menge – nicht zwingend der prozentuale Anteil – der Fehldiagnosen steigt. Ja, es gibt die Menschen, die sich selbst diagnostizieren, sich damit profilieren oder eine Diagnose als Ausrede für ihr Verhalten verwenden. 


Das lässt sich nicht zuletzt auch mit der Dynamik in sozialen Medien erklären, in denen sich rasche Gruppenbildung auf die Wahrnehmung auswirkt und es scheinbar nur die „Normalen“ und die „Abnormalen“ gibt. Ein Phänomen, das sich für jeglichen Trend finden lässt. Das liegt zum Teil in der Natur des Menschen und wird sich nur durch verstärkte gesellschaftliche Aufklärung und individuelle Verantwortungsübernahme vermeiden lassen. Und auch wenn es mir selbst als Betroffener zuwider ist, dass ein falsches Bild von ADHS von einigen Seiten zur Stimmungsmache missbraucht wird, ist das ein zu erwartender Preis der Aufklärung. Diese Spannungen müssen in einer solidarischen Gemeinschaft ausgehalten werden und sie bieten gleichzeitig die Chance, sich in ein produktives Miteinander aufzulösen.


Neue Annahme: Die Bewegung zu mehr Aufklärung über psychische Störungen steckt noch in ihren Kinderschuhen und wird daher von Kinderkrankheiten begleitet. Letztere spiegeln weder die Realität wider, noch dürfen sie auf der Grundlage von wenigen Trittbrettfahrern die Richtung vorgeben.


Annahme #6 – Kinder mit ADHS sind nur schlecht erzogen

Wie Kinder aufwachsen und erzogen werden, hat einen großen Einfluss auf ihre Zukunft. Ebenso profitieren nicht nur Familien allgemein von Erziehungsratgeber und -hilfen, sondern gerade Familien, in denen ADHS zum Vorschein kommt, sind auf verstärkte Unterstützung angewiesen. Zum Beispiel fordern Kinder mit ADHS durch ich Verhalten die Eltern unbewusst zu einem autoritären Erziehungsstil auf, welcher jedoch die Symptomatik begünstigt, was zu dem klassischen Teufelskreis führt, den fast alle betroffenen Familien kennen dürften. 


Die Folge sind meist Resignation aus Erschöpfung und der Verlust des Verantwortungsgefühls in einem permissiven Erziehungsstil, bei dem sich das Kind quasi selbst überlassen wird oder der Versuch die Kontrolle über die Familie krampfhaft zurückzuerlangen. Wenn dann noch mindestens ein Elternteil selbst von ADHS betroffen ist – was bei einer 70-80 % Vererbungsrate sehr wahrscheinlich ist – mischen sich unkontrollierte Wutausbrüche damit, welchen einem strukturgebenden, führenden, aber auch verständnisvollem Erziehungsstil (autoritativ) keinen Platz mehr lassen. 


Ein tröstlicher Gedanke dabei: Das Auftreten von ADHS ist keine Folge schlechter Erziehung, sondern vorwiegend genetisch bedingt. Ein geübter Umgang damit auf allen Seiten, dem Entwicklungsstand entsprechend und mit passendem Medikament unterstützt, räumt man dem ADHSler deutlich bessere Zukunftschancen ein. Nicht ohne Grund, können die Konsequenzen verheerend sein, einschließlich einer verkürzten Lebenserwartung durch vermehrtes Risikoverhalten mit Unfallfolgen, Herz- und Blutzuckererkrankungen bei stärkerer Suchtgefahr, bis hin zu Persönlichkeitsstörungen und Depressionen mit erhöhten Selbstmordraten. Dabei können Eltern alleine eben nur so viel leisten und selbst bei den vorhanden Unterstützungsangeboten sucht man häufig vergeblich nach der notwendigen Expertise.


Neue Annahme: Eltern tragen nicht die Schuld an der Existenz von ADHS, aber sie können wesentlich dazu beitragen, ihren Kindern den Weg für ein gesundes, selbstbestimmtes und verantwortungsvolles Leben zu bereiten. Meist ist dabei die Erkenntnis über eine eigene mögliche Diagnose und das Erlernen des Umgangs damit der ausschlaggebende Punkt.


Annahme #7 – ADHS-Medikamente machen aus Kindern Zombies

Eine Vorstellung, die sich hartnäckig hält. Medikamente sind zwar nach wie vor die wirksamste Behandlung v.a. im Kindesalter, bevor das Gehirn gereifter ist und therapeutische Maßnahmen Wirkung zeigen können. Aber bis noch vor relativ kurzen war deren Wirkungsweise nicht ausreichend erforscht. Das hat in der Vergangenheit dazu geführt, dass Medikamente in zu hoher Dosis verabreicht wurden, was tatsächlich zu einer Art „Ruhigstellen“ geführt hat. Es gibt aber auch das Phänomen, dass gerade Eltern mit ADHS die veränderte Verhaltensweise ihres Kindes selbst bei korrekter Einstellung als problematisch einstufen. 


Ein Grund dafür hängt mit der Identifizierung mit dem eigenen Kind zusammen. Jegliche Abweichung im Verhalten nach der Einnahme wird – zu Recht – skeptisch beobachtet. Das eigene Kind, dann aus neuem Blick zu betrachten ist selbstverständlich schwierig. Ohne die möglichen Nebenwirkungen herunterspielen zu wollen, kann man aber sagen, dass ADHS-Medikamente einer der am besten erforschten Psychopharmaka sind. Den positiven Einfluss ihrer Wirkung lässt sich am deutlichsten durch Aussagen der Betroffenen selbst wie „Ich habe heute aufgepasst, als ich aufgerufen wurde!“, „Ich habe meine Hausaufgaben schon lange nicht mehr vergessen!“, oder „Ich habe es geschafft endlich Freunde zu finden!“ verdeutlichen. 


Im Übrigen wirken die Medikamente dem bei ADHS ursächlichen Dopaminmangel (und dadurch in Teilen ein Mangel an Adrenalin und Noradrenalin) entgegen. Durch diesen wichtigen Botenstoff werden Mechanismen zur Motivation und im Belohnungssystem, aber auch die sogenannten exekutiven Funktionen (u.a. Arbeitsgedächtnis, Organisationsfähigkeit und Selbstregulation) in Gang gesetzt. Fortschritte in bildgebenden Verfahren bei Gehirnuntersuchungen und in der Entzifferung menschlicher Genetik zeigen dabei immer besser auf, dass Menschen mit ADHS zwar die Verantwortung für ihr Verhalten tragen müssen, aber keine Schuld für deren Ursache haben. Es bestätigt auch immer mehr die Vermutung, dass es einen evolutionären Grund für das Auftreten von ADHS gibt.


Neue Annahme: Medikamente dürfen und sollen in jedem Fall genauso kritisch begutachtet werden, wie die eigene Meinung darüber. Am Ende zählt der Einzelfall, der von einer zahlreichen Auswahl an Psychopharmaka profitieren kann, um die schlimmsten Folgen von ADHS abzumildern. Werden dadurch und weitere Unterstützungsmöglichkeiten gute Lebensgrundlagen geschaffen, ist auch ein Wechsel auf andere oder ein gänzlicher Verzicht auf Maßnahmen im Erwachsenenalter möglich.


Annahme #8 – ADHS bringt nur Nachteile mit sich

Von allen Vorurteilen wird dieser am ehesten von Betroffenen selbst propagiert. Aus mehr als verständlichem Grund, wenn man neben den schon angesprochenen Folgen einer verkürzten Lebenserwartung die fallenden Schul- und Arbeitsleistungen, zerbrochenen Beziehungen und Freundschaften, und die damit einhergehenden Selbstzweifel und ungesunden Bewältigungsstrategien betrachtet. Entgegen der gesellschaftlichen Wahrnehmung empfinden viele ADHSler nämlich durchaus ein Pflichtbewusstsein, sind sie sich doch ihres Verhaltens und dessen Folgen spätestens als Erwachsener im Klaren, ohne jedoch zu wissen, woher es kommt oder was sie dagegen tun können. Wenn man dann noch auf das Unverständnis oder gar Feindseligkeiten aus der Umgebung stößt – angefangen zu Kindeszeiten, in denen man als „Trottel“, „Faulenzer“ oder „Nervensäge“ betitelt wird – bleibt einem nicht viel mehr als Rückzug, Rebellion oder Resignation übrig.


Dennoch: Man kann mit ADHS ein gutes, selbstbestimmtes Leben führen, welches auf den eigenen Werten, der Persönlichkeit und Interessen aufbaut. Dafür braucht es den Mut, die Verantwortung für das eigene Verhalten zu übernehmen, bei gleichzeitiger Nachsichtigkeit für sich selbst. Dann kann man als Betroffener auch anfangen, die Stärken zu nutzen, die ADHS innewohnen. Denn bei solch einer hohen Prävalenz in der Bevölkerung, der Erkenntnis, dass die Symptomatik geschichtlich noch vor einer formellen Klassifizierung durch die Psychologie beschrieben wurde, und, dass die Vererbbarkeit so hoch ist, lässt folgendes vermuten: ADHS ist nicht NUR als Störung zu betrachten, sondern hat ihren Ursprung in evolutionärer Anpassung. Bei einem Dopaminmangel treten nicht nur die typischen Symptome einer Störung auf, sondern es ergeben sich auch ganz entscheidende Vorteile. Dies ist mit dem inneren Wahrnehmungs- und Bewertungsfilter zu erklären, der bei ADHS weniger aktiv ist. Dies bedeutet, dass äußere Reize wie Geräusche, Bewegungen, und Mimik anderer, als auch innere Reize wie Emotionen, Gedanken und Impulse häufiger wahrgenommen werden. Dadurch ist man z.B. leichter ablenkbar oder schneller gereizt, aber eben auch offener für neue Eindrücke und aktiver! Der gleiche Mechanismus, der zu dem „gestörten“ Verhalten in einer modernen Welt führt, ist auch für Verhaltensweisen verantwortlich, die ADHSler einst zu wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft gemacht haben:


  • Aus dem verträumten Spätaufsteher wird ein aufmerksamer Wächter
  • Aus dem von Hunger geplagten Faulenzer wird ein geschickter Jäger
  • Aus dem hibbeligen Trotzkopf wird ein adrenalingetriebener Krieger
  • Aus der vergesslichen Quasselstrippe wird ein kreativer Problemlöser
  • Aus dem neugierigen Tollpatsch wird ein mutiger Entdecker


Dabei konnte die Stammesgruppe und im weiteren Sinne die Menschheit durchaus davon profitieren, wenn unbekannte, etwa giftige Nahrung aus Neugier probiert oder fremde Stämme unterworfen und sich mit ihnen durchgemischt wurde. Dass bei vielen dieser „Berufe“ ein ADHSler häufig ein schnelles, aber heroisches Ende gefunden hatte, mag erklären, warum sich das ADHS-Gen nicht weiter durchgesetzt hat, aber dennoch erhalten bleibt: Am Ende bekommt der Held das Mädchen – oder eben die Heldin, den Jungen.


Neue Annahme: Die moderne Welt wurde nicht für Menschen mit ADHS geschaffen. Aber eine Gesellschaft durch Selbstgeißelung zu fördern, die einem nicht mal einen Platz einräumt, oder durch Selbstmitleid, an ihrem Boden zu zerschellen, kann nicht das Ziel sein. Ein verstärkter Blick in die, seitens der Psychologie häufig stiefmütterlich behandelten Erkenntnisse der Evolution, zeigt sich lohnenswert und notwendig.


Fazit

Auch wenn ich keine Rückkehr zu den Zeiten unserer Vorfahren befürworte, suchen wir alle einen Platz in der Gesellschaft, welche aber nicht mehr die Bedürfnisse und Stärken von ADHSlern berücksichtigt. Aber es gibt sie, die Nischen für uns. Wir sind die Hochleistungssportler und Einsatzkräfte, die Entertainer und Künstler, die Gründer und Erfinder. Wir leben in den Extremen der Gesellschaft, gehen darin auf. Im Positiven wie im Negativen. Zum Schluss daher mein Appell, an alle Betroffenen: Entzieht euch nicht der Möglichkeit, euer Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ihr profitiert am meisten davon, euch nicht über eine Diagnose zu definieren. An alle anderen möchte ich das afrikanische Sprichwort vermitteln, dessen Autor über ein Kind mit ADHS gesprochen haben muss: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen.“ Ich hoffe, damit wir die Verantwortung, die wir alle tragen, deutlich.


PS: Du möchtest lernen, wie man auch mit ADHS ein selbstbestimmtes Leben führt oder brauchst Unterstützung beim Weg zur Diagnose? Vielleicht bist du auch Angehörige oder Fachkraft, die von mehr Informationen zum Thema ADHS profitieren kann? Dann kontaktiere mich oder buche direkt ein kostenfreies Erstgespräch und lass dich von mir als deinem Coach begleiten. Bis bald!


Quellen

  • World Health Organization. (n.d.). 6A05 Attention deficit hyperactivity disorder. World Health Organization. https://icd.who.int/browse/2022-02/mms/en#821852937
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  • Häufigkeit. ADHS Deutschland e. V. (n.d.). https://www.adhs-deutschland.de/adhs-adhs-ads/haeufigkeit
  • Wichtige Zahlen und Fakten. Infoportal ADHS. (n.d.). https://www.adhs.info/fuer-erwachsene/wichtige-zahlen-und-fakten/
  • Klein, F. (2023, February 9). Aufmerksamkeitsdefizit in Sachen ADHS . Medical Tribune. https://www.medical-tribune.de/medizin-und-forschung/artikel/aufmerksamkeitsdefizit-in-sachen-adhs
  • Lachenmeier, H. (2021). Mit ADHS Erfolgreich im Beruf: So Wandeln Sie vermeintliche Schwächen in stärken um. Springer.
  • Hartmann, T. (2019). ADHD: A Hunter in a farmer’s world. Healing Arts Press.
  • Cortese, S., Adamo, N., Del Giovane, C., Mohr-Jensen, C., Hayes, A. J., Carucci, S., Atkinson, L. Z., Tessari, L., Banaschewski, T., Coghill, D., Hollis, C., Simonoff, E., Zuddas, A., Barbui, C., Purgato, M., Steinhausen, H.-C., Shokraneh, F., Xia, J., & Cipriani, A. (2018). Comparative efficacy and tolerability of medications for attention-deficit hyperactivity disorder in children, adolescents, and adults: A systematic review and network meta-analysis. The Lancet Psychiatry, 5(9), 727–738. https://doi.org/10.1016/s2215-0366(18)30269-4
  • Görres, Q. (2022, December 13). What’s the history of ADHD? here’s a complete timeline. Inflow. https://www.getinflow.io/post/a-complete-timeline-of-adhd-discovery-research-history